Als junger Vater hatte ich manchmal das Gefühl, meine Kinder wären mir im Weg. So viel Zeit, so viel Energie, so angebunden – dabei war ich doch selbst noch so bedürftig! Und ständig auf der Suche nach mir selbst, meinem Weg, meinem Vorankommen. Meine berufliche „Karriere“ nahm schnell eine erstaunliche Wendung, und ich begann, mit Kindern zu arbeiten: Meine Frau und ich starteten einen Kindergarten, zunächst bei uns zuhause, später zwei Dörfer weiter in Zusammenarbeit mit einer freien Schule. Und neben unserem ersten Sohn gesellten sich sechs „fremde“ Kinder hinzu; und im Laufe der Jahre wurden uns noch zwei weitere „eigene“ Kinder geschenkt, und viele weitere Kindergartenkinder. Die Kinder rückten in den Vordergrund und Mittelpunkt unseres Lebens.
In über 20 Jahren familiärer Alltag, pädagogischer Arbeit, und der Einübung von Achtsamkeit & Meditation zeigte sich immer deutlicher: Kinder sind mir nicht im Weg, sie konfrontieren mich mit und sie führen zu mir selbst, und zu einem Leben von Moment zu Moment. Es gibt wohl kaum einen intensiveren Kurs für Persönlichkeitsbildung und soft skills als uns auf Kinder einzulassen, auf die Begleitung ihrer individuellen Entwicklung und ihrer sozialen Dynamik in der Gruppe. In Reflexion und Rückblick ernte ich seit einigen Jahren, was wir gerade bei „Störungen“, Konflikten und Herausforderungen alles lernen können.
Seit ich freiberuflich tätig bin, und seit mich die Pandemie wie viele andere auch eingebremst hat, bin ich wieder dabei anzukommen, statt voranzukommen. Und mir sind plötzlich manchmal Stunden mit meinen Töchtern geschenkt, die jetzt mit 15 und 19 Jahren immer wieder Schule von zuhause aus haben. Natürlich kenne ich auch Ungewissheit und Zweifel, ob ich das „beruflich überstehe“, aber ich habe mittlerweile Übung darin, „mich zu lassen“, wie der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart das nannte. Und wenn ich mich, mein Kreisen um Gedanken lassen kann, bin ich für Momente frei für das, was hier und jetzt geschieht und an Begegnungen möglich ist. Gestern mitten am Vormittag mal zehn Minuten Australian Open mit meiner sportbegeisterten älteren Tochter, gerade eben ein zweites Frühstück mit selbst gebackenen pancakes meiner jüngeren Tochter, bevor sie schnell wieder zurück zum Online-Unterricht muss.
Diese Momente kommen nicht wieder. Sie sind kostbar und machen am Ende das aus, was wir „unser Leben“ nennen. Sie gehören vielleicht zu den wichtigsten Einsichten und Übungen gerade: Leben ist, was uns gerade passiert, während wir dabei sind, uns Gedanken zu machen über das Leben. Unser Leben zurückzugewinnen, statt uns in Gedanken und Gefühlen verlieren. Kinder sind uns nicht im Weg, sie sind uns geschenkt, geliehen. Um anzukommen im Leben, statt voranzukommen.
Wenn wir die Chance ergreifen, die wundersame Entfaltung unserer Kinder mitzuerleben, kommen wir auch mit unseren eigenen Wachstumsprozessen wieder in Berührung: Mit Kindern wachsen. Und auch wir wachsen zum Licht, und es entfaltet sich unser ureigenes Leben, wenn wir uns nicht selbst im Weg stehen.
Family unplugged
Eine Auszeit für Eltern und Kinder
Fr 10. Juni 2022 – So 12. Juni 2022,
Leiter Steve Heitzer
Autor
Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Pädagoge und Theologe. Er leitet Seminare und Fortbildungen zu Achtsamkeit, Pädagogik und Spiritualität. Im Arbor-Verlag ist sein Buch erschienen „Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit“. Seine Angebote finden sich auf www.steveheitzer.at
Quelle: Frühlingsausgabe der Zeitung “FAMILIE” des Vorarlberger Familienverbands